Carsten Henn
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„Der Buchspazierer“
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Pendo Verlag
Der 72-jährige Carl Kollhoff hat nur noch eine für ihn wichtige Aufgabe in seinem Leben: Bücher aus der Buchhandlung persönlich zu Fuß an bestimmte Kunden auszuliefern. Sein Kundenkreis ist klein und sehr illuster. Die Bücher packt er vorher wie Schätze akkurat und sorgsam in Packpapier ein, bevor sie in seinem alten Bundeswehrrucksack verschwinden. Diesen schnallt er sich vorsichtig auf seinen Rücken und schon startet der Rentner die abendliche Runde. Tagein, tagaus nimmt er die penibel ausgewählte Route zu seinen Kunden in seiner festgelegten Welt, deren Grenzen er seit 34 Jahren nicht mehr verlassen hat. Jedes Mal wird er schon mit großer Ungeduld und Vorfreude erwartet. Der ehemalige Buchhändler kennt die Eigenheiten und Besonderheiten seiner Abnehmer genau und verknüpft mit jedem Einzelnen eine literarische Figur. Es scheint, als ob er eine Stadt voll lebendig gewordener Literatur besuche und durchliefe. Auch die Übergabe der Bücher verläuft jeweils nach einem individuellen Ritual, das stets gewahrt werden muss und Kollhoff mit seinen Kunden auf besondere, liebevolle Weise verbindet. Doch seine feste Routine wird eines Tages erschüttert, da Kollhoff auf seiner Runde unerwartet Gesellschaft bekommt: ein 9-jähriges Mädchen schließt sich ihm äußerst aufdringlich, jedoch charmant und beharrlich an. Sie scheint ihn und Teile seiner Tour durch genaue Beobachtungen schon gut kennengelernt zu haben. Der alte Mann steht ihr anfangs abgeneigt gegenüber, was nur darin begründet liegt, dass Kinder ihm wie ferne, fremde Wesen erscheinen. Seine klar strukturierte, starre Welt steht seiner Meinung nach im krassen Gegensatz dazu. Aber diese Begegnung war nur der Anfang von vielen Veränderungen, die Kollhoffs Leben und das seiner Kunden gehörig durcheinanderwirbeln.
Carsten Henn ist mit diesem Roman ein Meisterstück der Erzählung gelungen. Geschickt kombiniert er Werke der Weltliteratur mit einzelnen Protagonisten dieses Romans. Die Geschichte des alten Buchhändlers trifft den Leser mitten ins Herz. Am liebsten möchte man Kollhoff auf seiner Runde begleiten und die einzelnen Kunden selbst kennenlernen, um diese mit den literarischen Vorlagen vergleichen zu können. Das Mädchen Schascha erwärmt das Herz auf besondere Art und Weise und macht Mut, selbst für wichtige Dinge tatkräftig und überzeugt einstehen zu wollen. Das Buch zeigt eindrucksvoll, leise und unaufgeregt, wie wichtig Freundschaft ist und dass sie sich entwickelt, auch wenn man gar nicht danach strebt, sondern einfach nur zuhört. Die Liebe zu Büchern besitzt die Macht, unterschiedlichste Menschen miteinander zu verbinden. Diese Hoffnung und Zuversicht lassen den Leser das Buch nach 224 Seiten ein wenig wehmütig und doch glücklich zuschlagen. Henns Schreibstil liest sich flüssig und lebendig, sodass die liebevoll beschriebene Welt deutlich und anschaulich vor dem inneren Auge des Lesers erscheint.
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